150 Jahre sind seit dem Tode Johann Wolfgang von Goethes vergangen,
"jenes sprachgewaltigen deutschen Dichters, der seine Landsleute zu lehren
versucht hatte, daß wahre Größe sich nicht nach Reichtum und Macht bemaß,
sondern sich am Festhalten an moralischen Überzeugungen und an der Hingabe an
die Sache der Freiheit zeigte", wie es der große Historiker Gordon A.
Craig, der Verfasser der "Deutschen Geschichte 1866-1945", formuliert
hat.
Der mit dem Leben und Wirken Goethes nur oberflächlich Vertraute – und das
gilt von der übergroßen Mehrzahl seiner deutschen Landsleute zumindest in
unseren Tagen – wird allenfalls wissen, daß dieser im Westen des alten
Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – in der Freien Reichsstadt
Frankfurt am Main – geborene einmalige Dichter und Denker mal in Leipzig
studiert hat und einen großen Teil seines Lebens im thüringischen Weimar
verbracht hat: mehr aber auch nicht.
Durch die Teilung des ehemaligen Deutschen Reiches ist Weimar heute nur noch
für eine kleine Minderzahl von Touristen ein lebendiger Begriff – Leipzig ist
durch die Messen einer etwas größeren Zahl von Bürgern der Bundesrepublik
bekannt, und sie haben wohl auch vor der alten, 1678 erbauten Handelsbörse das
Denkmal gesehen, das erst im Jahre 1903 der Leipziger Bildhauer Carl Seffner
(1861-1932) vom jungen Goethe geschaffen hat.
Über die Leipziger Studentenzeit dieses jungen Goethe gibt es eine Menge netter
Erzählungen, Mischung von Dichtung und Wahrheit, aber gerade an dieser Zeit
kann man schwerlich Goethes Bindung an Mitteldeutschland "aufhängen".
Goethe hat in seiner eigenen Autobiographie, eben seiner eigenen "Dichtung
und Wahrheit", offen und ausführlich darüber berichtet. Der
Fünfzehnjährige, als Sohn reicher Eltern teils vom Vater, teils von Hauslehrern
unterrichtet, war, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, in eine
Gesellschaft von "Halbstarken" geraten, ohne es in seiner
Weltfremdheit zu merken – junge Menschen, die seine früh hervorgetretene
poetische Begabung für ihre Zwecke ebenso zu missbrauchen trachteten wie seinen
guten Kontakt zum Großvater Textor, der als Schultheiß der höchste Beamte der
Freien Reichsstadt Frankfurt war. Als die Machenschaften jener
"Halbstarken" aufflogen, hielt man den jungen Goethe anfänglich für
weit schuldiger als er war, nicht zuletzt, weil er aus einem Gefühl der
Loyalität seine Gefährten anfänglich schützen zu müssen glaubte.
Diese Vorgänge bestärkten aber Vater Goethe, den Sohn sobald als möglich aus
der Vaterstadt fortzuschicken. Das Abitur, die Reifeprüfung der Höheren
Schule, als Bedingung für die Immatrikulation an einer Universität, kannte man
noch nicht: Diese Bedingung wurde in Preußen durch Edikt vom 12. Oktober 1812
eingeführt, im Königreich Sachsen erst 1829: Vorher war es in das Ermessen der
Universitäten gestellt, ob sie meinten, dass jemand reif für ein
Universitätsstudium sei, und die Auffassungen waren oft recht unterschiedlich.
Der junge Goethe wäre, wie er selber schreibt, liebend gern an die Universität
Göttingen gegangen, doch der Vater hatte eine unüberwindliche Abneigung gegen
Göttingen und entschied für Leipzig.
Johann Wolfgang war erst 16 Jahre alt, als er auf die Universität geschickt
wurde und unter Obhut des Ehepaars Fleischer nach Leipzig abreiste: In diesem
Alter wurde später ein Schüler von Unter- nach Obersekunda versetzt (sofern er
nie sitzengeblieben war) oder machte, wenn er nicht studieren wollte, sein
"Einjährigen-Freiwilligen"-Examen, die Obersekundareife, auf Grund
deren er im Heer nur ein Jahr zu dienen hatte. Ein Sechzehnjähriger ist, und
war im 18. Jahrhundert in noch stärkerem Maße, im Pubertätszeitalter, noch
halb Kind.
Die Stadt Leipzig – als Zentrum des mitteleuropäischen Buchhandels und der
größten Messen Mitteleuropas in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr
wohlhabend geworden – imponierte dem kaum Erwachsenen durch ihre noch neuen
imposanten Barockbauten, dem jungen Kindskopf, der am liebsten
Altertumswissenschaft, Poetik und dergleichen studiert hätte, setzte der
Professor Johann Gottlob Boehme (1717 bis 1780) liebevoll den Kopf zurecht und
überzeugte ihn, dass es besser sei, dem Wunsch des Vaters zu folgen und
Jurisprudenz zu studieren: Der Bub fügte sich Boehmes Argumenten, wenn er auch
ein keineswegs fleißiger Student wurde und durch skurrile Freunde wie Behrisch
oft genug abgelenkt wurde. Die zarte, kränkliche, erste Frau Boehmes, Eva Maria
geb. Görz, die 1767 starb, gab sich große Mühe mit dem liebenswerten
Kindskopf – mit halbem Erfolg.
Den positivsten Einfluss in dieser Zeit hat wohl Johann Gottlob Immanuel
Breitkopf auf den künftigen Dichter ausgeübt. Seine erste leidenschaftliche
Liebe, die zu Anna Katharina Schönkopf, Tochter des Weinschenken Schönkopf auf
dem Brühl, fällt in die Leipziger Zeit: Doch die 3 Jahre Ältere wusste
stets
Distanz zu wahren und heiratete dann den Dr. jur. Kanne aus Wolkenstein, der
später als Proconsul zu einem der höchsten Beamten der Stadt Leipzig aufstieg.
Manches deutet darauf hin, dass Goethe seinen Kummer in Merseburger Bier zu
ertränken versuchte – auch der so wohlwollende Gustav Wustmann deutet darauf
hin -, jedenfalls kehrte er krank als 19jähriger, nunmehr im Abiturientenalter,
nach der Vaterstadt zurück und noch das ganze Jahr 1769 war ein Jahr der
Kränklichkeit und Gährung. Dann folgte Straßburg, und dort bestand er die
juristische Abschlussprüfung, um dann zunächst Rechtsanwalt in seiner
Vaterstadt zu werden.
Soweit die Leipziger Episode. Anders die 57 Jahre Weimar! Der Dichter und der
Naturforscher fand seine Entfaltung weitestgehend in dem Raum, der auch in
weitem Umfang sein "Urahnenland" war.
Diese Herkunft und der Umstand, dass zwei Drittel seines langen Lebens in diesem
Raum verliefen, berechtigt, Goethe weitgehend Mitteldeutschland zuzuordnen.
Goethes früheste nachweisbare Ahnen kamen aus dem nordthüringischen
Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen, sie lebten in Badra, dann in Berka, wo
sein Ururgroßvater Hans Goethe Gemeindevorsteher wurde. Später Bürger und
Branntweinbrenner in Sangerhausen, um im hohen Alter bei seinem Sohn in Artern
die Augen zu schließen.
Dieser Sohn, Goethes Urgroßvater Hans Christian Goethe, wurde Bürger und
Hofschmiedemeister in Artern in der Grafschaft Mansfeld, nicht weit von Luthers
Geburts- und Sterbestadt Eisleben. Aus Artern stammten sowohl Hans Christians
Frau Sibylle Werner wie auch seine gleichnamige Mutter – Hans Christians
Schwiegervater, auch ein Ururgroßvater Goethes, ist über 40 Jahre "Collega
intimus" an der Schule in Artern gewesen. Artern und Eisleben fielen mit
einem Teil der Grafschaft Mansfeld nach dem Aussterben der Mansfelder Grafen
1780 an das Kurfürstentum und spätere Königreich Sachsen, und als Sachsen
1815 auf dem Wiener Kongress, weil es bis zur Völkerschlacht bei Leipzig auf
Napoleons Seite gestanden hatte, verstümmelt wurde, wurden Artern und Eisleben
preußisch.
Hans Christian lebte in jungen Jahren einige Zeit in Cannawurf (Kannawurf), das
damals kursächsisch war und zu dem südlich an das
schwarzburg-sondershäusische Land angrenzenden sächsischen Ephoralbezirk
Weißensee gehörte. Dort ist Goethes Großvater Friedrich Georg Goethe, der
sich später gern Goethé schrieb, am 6. September 1657 zur Welt gekommen, als
erstes der 9 Kinder der Ehe Goethe-Werner, rein thüringischer Abkunft. Über
ihn und auch über seine Geschwister ist allerlei bekannt, er selber wurde
Schneidermeister – in der Folge ein geschätzter Damenschneidermeister -, auch
die Brüder verblieben im Handwerk, Hans Philipp wurde Tischlermeister in
Allstedt an der Helme, Hans Jakob Hofschmiedemeister auf Schoß Mansfeld und
Hans Georg gräflicher Hufschmied auf Schoß Mansfeld: die Geschwister blieben
im Thüringer Raum, nur den Ältesten zog es in die Fremde. Paul Burg, ein Mann,
der als Schriftsteller gewiss ein Vielschreiber war, hat das Verdienst, als
erster weite Kreise auf Goethes väterliche Ahnen aufmerksam gemacht zu haben,
die weit weniger bekannt waren als die schon um 1700 hochgestellten Ahnen der
Mutter: seinem Roman "Sie sind´s, die Ahnen meines Hauses", der 1924
erschien, legte er eine Tafel der väterlichen Vorfahren Goethes nach dem
damaligen Stand der wissenschaftlichen Erforschung bei.
Und von nun an riss die Forschung nicht mehr ab. 1932, als der 100. Todestag
Goethes nahte, legte der Marburger Staatsarchivdirektor Carl Knetsch
(1874-1938), ein Genealoge von internationalem Ruf, seine umfassende Ahnentafel
Goethes vor, ein bis heute unübertroffenes Standardwerk. Diese
Veröffentlichung inspirierte den als Mineralogen und Mathematiker rühmlichst
bekannten Gießener Universitätsprofessor Siegfried Rösch (geboren 15.6.1899),
der in seiner Freizeit leidenschaftlicher Familienforscher war, dem gesamten
Verwandtschaftskreis Goethes bis in die vierte Generation rückwärts
nachzugehen. Ein erstes Ergebnis legte Rösch in dem Lichtbildervortrag vor, den
er am 19. April 1942 in der damaligen Frankfurter Genealogischen Gesellschaft
über das Thema "Wie viel Verwandte Goethes gibt es?" hielt. 1954 legte
er dann sein großes Werk "Goethes Verwandtschaft" vor, eine ebenso
umfassende Dokumentation wie die von Carl Knetsch. Dank dieser Arbeit wissen
wir, dass das thüringische Geschlecht Goethe in vielen Linien fortlebt.
Schauen wir in die großen Lexika, so finden wir darin Hermann Goethe (geb.
16.3.1837 Naumburg/Saale, gestorben 12.5.1911 Baden bei Wien), den Gründer der
Obst- und Weinbauschule in Geisenheim am Rhein, der dann der führende Fachmann
des österreichischen Weinbaus wurde – als er nach Österreich ging, wurde
sein jüngerer Bruder Rudolf (geb. 13.4.1843 Naumburg, gestorben 16.1.1911
Dortmund) 1879-1903 sein Nachfolger als Direktor der Lehranstalt für Obst –und
Weinbau in Geisenheim. Beide Brüder wussten, dass sie irgendwie mit Johann
Wolfgang Goethe verwandt waren: Ihr Ahn Hans Christof Goethe in Berka
(1632-1669) war der Urgroßonkel des Dichters, der ältere Bruder von Goethes
Urgroßvater Hans Christian. (Die beiden Goethe-Brüder haben in Röschs
Buch die Personen-Nrn.: (16/7) + III; a 9 bzw. ... a 11; Anm. Arndt Richter)
Beide Brüder haben im Mannesstamm Nachkommen bis in unsere Tage gehabt –
Rösch verzeichnet in der Urenkelgeneration nicht weniger als sechs Träger des
Namens Goethe im Mannesstamm, zwischen 1926 und 1948 geboren. Schwächer ist die
männliche Nachkommenschaft der Brüder von Goethes Großvater, hier führt
Rösch in der lebenden Generation nur zwei Vertreter auf – Goethes Großvater
hatte aus zwei Ehen nur zwei Söhne, von denen der ältere, der Ratsherr und
Zinngießermeister Hermann Jakob Goethe (1697-1761), nur Töchter hinterließ,
während Johann Caspar der Vater des Dichters wurde.
In seinem oft aufgelegten Buch "Geniale Menschen" weist der Tübinger
Psychiater Ernst Kretschmer (1888-1964) darauf hin, dass der schwäbische Raum
einerseits und der sächsisch-thüringische Raum andererseits eine besondere
Häufung von ungewöhnlichen Begabungen gebracht hat. Ein im Zweiten Weltkrieg
erschienenes Büchlein "Was das evangelische Pfarrhaus dem deutschen Volke
gegeben hat" unterstreicht diese These.
Betrachten wir nun die Ahnen des Dichters unter diesem Gesichtspunkt, so müssen
wir den sehr großen Anteil gerade dieser erwähnten Gebiete an den Aszendenten
feststellen. Goethes Großvater seines Namens war ein reiner Thüringer, die
Großmutter Cornelia Walther ist zwar in Frankfurt geboren, deren Vater Georg
Walther aber bereits in Weikersheim im württembergischen Jagstkreis, einst ein
Teil des Hohenloher Landes, und dessen Vater in Deiningen unweit Nördlingen im
bayerischen Teil von Schwaben.
Und nun die Ahnen von Goethes Mutter Frau Aja, der "Frohnatur". Ihre
Ahnen kamen zu einem erheblichen Teil aus dem schwäbischen Raum. Wohl war ihr
eigener Vater zum höchsten Beamten der Freien Reichsstadt Frankfurt
emporgestiegen, aber schon sein Vater war in der fränkischen Universitätsstadt
Altdorf geboren, aber das war eigentlich Zufall: Urgroßvater Johann Wolfgang
Textor, dessen Vater seinen deutschen Familiennamen Weber in "Textor"
lateinisiert hatte, war 1638 im württembergischen Neuenstein geboren, seine
Frau in Crailsheim im württembergischen Jagstkreis, der in jener Zeit politisch
zu Brandenburg-Ansbach gehörte. Johann Wolfgang Textor, Dr. jur., war 7 Jahre
Professor in Altdorf, dann wurde er an die Universität Heidelberg berufen und
von dort ging er 1690 als Stadtsyndikus nach Frankfurt am Main – da war sein
Sohn Christoph Heinrich immerhin bereits 24 Jahre alt.
Und betrachten wir einen anderen mütterlichen Goethe-Ahnen: den Marburger Herrn
Hofgerichtsprokurator Johann David Seip! Seine Mutter Elisabeth Schröter war in
Meiningen geboren, Tochter des 1570 in Weimar geborenen Professors an der
Universität Jena und Kanzlers in Meiningen Jacob Schröter, dessen Vater, der
Bürgermeister und Stoffhändler Jacob Schröter der Ältere, Barbara Brück,
die Enkelin des Malers Lucas Cranach (1472-1553), geheiratet hatte. War Lucas
Cranach aus dem nordfränkischen Kronach Goethes "berühmtester Ahn",
so war Barbaras anderer Großvater Gregorius Brück aus Brück bei Wittenberg
als Kanzler des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Weisen eine der tragenden
Figuren der sächsischen Geschichte des 16. Jahrhunderts, er riet 1530 zur
Übergabe der Augsburgischen Konfession an Kaiser Karl V. und schrieb die
Vorrede zu deren deutschem Text.
Goethe ist zwar in Frankfurt am Main geboren, seine Ahnentafel zeigt aber
deutlich, dass er zu einem erheblichen Teil – und, wie wir sahen, nicht nur
väterlicherseits – mitteldeutschen Ursprungs ist, und dass der zweite
gewichtige Faktor seine südwestdeutschen Ahnen sind und dass er in seiner
Einmaligkeit gleichsam die Thesen Ernst Kretschmers auf seine Weise belegt.
Goethe ist sich seines vielfältigen Erbes stets bewusst gewesen und hat es ganz
ergreifend am Schluss der "Zahmen Xenien" zum Ausdruck gebracht:
"Gern wär´ ich Überlieferung los
Und ganz original;
Doch ist das Unternehmen groß
Und führt in manche Qual.
Als Autochthone rechnet ich
Es mir zur höchsten Ehre,
Wenn ich nicht gar zu wunderlich
Selbst Überlieferung wäre.
———————
Vom Vater hab´ ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
Vom Mütterchen die Frohnatur
Und Lust zu fabulieren.
Urahnherr war der Schönsten hold,
Das spukt so hin und wieder;
Urahnfrau liebte Schmuck und Gold,
Das zuckt wohl durch die Glieder.
Sind nun die Elemente nicht
Aus dem Complex zu trennen,
Was ist dann an dem ganzen Wicht
Original zu nennen?"
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- Eine Plauderei über die Nachkommen von Goethes Eltern -
Wir wissen heute durch die ausführliche Erforschung der Ahnen Goethes von
Fachmännern ersten Ranges wie Archivdirektor Carl Knetsch, Professor Siegfried
Rösch und andere, welch vielseitiges Erbe Goethe in sich trug, wobei in erster
Linie die mitteldeutsche, in zweiter Linie die südwestdeutsche Note
vorherrschend war. Fragt man aber den Durchschnittskenner von Goethes Leben und
Wirken, so wird hinzugefügt: Wie das so bei Genies zu sein pflegt, das ist nun
alles erloschen – nur ein Sohn Goethes blieb am Leben, von dessen drei Kindern
starb die Tochter jung, die beiden Söhne unverheiratet mit 67 und 63 Jahren,
und damit war alles erloschen.
Man vergisst dabei meistens, dass Goethes Schwester Cornelia, am 7. Dezember
1750 in Frankfurt geboren und am 8.Juni 1777 in Emmendingen in Baden gestorben,
die trotz inniger Liebe der Geschwister zueinander ganz im Schatten des
berühmten Bruders blieb, zumal sie schon im 27. Jahre starb, am 1.11.1773
geheiratet hatte, und zwar einen geistig bedeutenden und vielseitigen Mann:
Johann Georg Schlosser, am 9. Dezember 1739 in Frankfurt geboren, damals
Oberamtmann im badischen Emmendingen, später Geheimer Hofrat in Karlsruhe und
1790 Direktor des dortigen Hofgerichts. Ein sehr sozial eingestellter Mann,
schied er 1794 freiwillig aus seinen Ämtern, weil eine von ihm zugunsten der
Armen erlassene Verfügung von der Regierung gegen seinen Einspruch
zurückgenommen wurde. 1798 wählte ihn seine Vaterstadt Frankfurt zum Syndikus,
und als "jüngerer Bürgermeister" von Frankfurt ist er am 17. Oktober
1799 in seiner Vaterstadt verstorben.
Er übersetzte altgriechische Schriftsteller und war ein enger Mitarbeiter von
Goethe und Merck bei den "Frankfurter Gelehrten Anzeigen". Nach
Cornelias frühem Tod hat er die auch Goethe sehr verbundene, geistig sehr
bedeutende Johanna Fahlmer geheiratet.
Cornelia hat ihrem Ehemann zwei Töchter geschenkt, von denen die jüngere,
Julie (1777 bis 1793), die der Mutter das Leben kostete, früh verstarb, die
ältere, Luise Marie Anna, genannt Lulu, aber Mutter von 9 Kindern wurde, von
denen mehrere über 80 Jahre als geworden sind. Lulu Schlosser, geboren 28.
Oktober 1774 in Emmendingen, eine geistig ungemein rege Frau, heiratete am 5.
Juni 1795 in Ansbach Georg Heinrich Ludwig Nicolovius, der, am 13. Januar 1767
in Königsberg i.Pr. geboren und Bruder des bekannten Königsberger
Buchhändlers Nicolovius, im Jahre 1795 Kammersekretär in Eutin wurde, mit
seiner Frau dem dortigen Dichterkreis nahetrat, 1805 Konsistorialrat in
Königsberg und Kurator der dortigen Universität wurde, 1810 Staatsrat bei der
Sektion Kultus und Unterricht in Berlin – er wurde der engste Mitarbeiter des
preußischen Kultusministers Freiherr vom Stein zum Altenstein (1770-1840, meist
nur Altenstein genannt) und hat an dessen großer Lebensleistung wesentlichen
Anteil.
Nicolovius ist am 2. November 1839 72jährig in Berlin verstorben. Seine Frau
Lulu hat sich von der Geburt ihrer jüngsten Tochter Flora (die selber 68 Jahre
alt wurde) nicht mehr erholt und ist 4 Monate nach deren Geburt 37jährig am 28.
September 1811 in Berlin gestorben. Die Briefe, die sie an ihre Herzensfreunde,
Caroline Perthes, Tochter des "Wandsbeker Boten" Matthias Claudius´
und Gattin des großen "Urvaters" des modernen Buchhandels, Friedrich
Perthes, schrieb, legen von ihrem lebensfrohen Gemüt und ihrer großen
geistigen Lebendigkeit Zeugnis ab. Sie haben sich im Perthes-Archiv zu Hamburg
erhalten.
Als Tochter von Cornelia Goethe hatte Lulu alle Ahnen mit Goethe gemeinsam, und
sie hat dies Erbe an ihre Kinder weitergegeben. Sind von ihren neun Kindern auch
drei klein gestorben, und eine Tochter kinderlos mit 31 Jahren, so hat Lulu doch
durch fünf ihrer Kinder (diese fünf Kinder lebten 80, 81, 70. 84 und 68 Jahre)
bis heute eine zahlreiche Nachkommenschaft gehabt: diese Nachkommen haben –
neben ihren anderen Voreltern – auch alle Ahnen Goethes in ihrem Erbe. Goethe
hat von seinen Großneffen den späteren Professor der Rechte an der
Universität Bonn, Dr. jur. Alfred Nicolovius (geb. 30.11.1806 in Königsberg, gest.
22.3.1890 in Bonn), besonders gern gehabt – dieser Großneffe hatte obendrein
eine bemerkenswerte Familienähnlichkeit mit dem Großonkel.
Es ist das besondere Verdienst von Siegfried Rösch, in seinem Werk über
"Goethes Verwandtschaft" alle Nachkommen von Cornelia, soweit er sie
vor 26 Jahren erfassen konnte, zusammengestellt zu haben. Gewiss waren nicht
alle zu erfassen – so wurde der Sohn Ludwig des erwähnten Professors Alfred
Nicolovius Kaufmann in Brooklyn und New Jersey, und dessen Tochter Mary
heiratete den Engländer William Varian im höheren Verwaltungsdienst – die
Nachkommen sind Briten.
Dafür findet sich in der Bundesrepublik eine Anzahl Vertreter des Adels unter
den Nachkommen, Träger der Namen von Stralendorff, von Köller, von Tresckow,
von Randow – die alle heute bürgerliche Berufe ausüben: die
"Genealogischen Handbücher des Adels", die laufend erscheinen,
belehren uns, dass sich diese Nachkommen der Eltern Goethes weiter vermehren und
sich auch als lebenstüchtig erwiesen haben. Es sind dies schließlich die
nächsten Blutsverwandten Goethes, und eigentlich sollte Goethes Vaterstadt
Repräsentanten dieser Familien, die ja alle im westdeutschen Raum leben, anlässlich
des 150. Gedenktages von Goethes Tod einmal einladen. Vielleicht
wissen nicht einmal alle, dass sie mit dem Dichterfürsten alle Ahnen gemeinsam
haben. Das biologische Erbe Goethes ist keineswegs so erloschen, wie es oft
angenommen wird.
Ein Bruchteil der Nachkommen von Cornelia Goethe ist mit Adressenangaben in zwei
im Jahr 1973 erschienenen Bändern des GENEALOGISCHEN HANDBUCHS DES ADELS
enthalten (Adressen von 1973):
1. Emilie Gräfin von Spreti, geb. Gräfin von Bylandt, geb. 30.12.1904 in
Köln, 1973 wohnhaft 8203 Oberaudorf/Bayern.
2. Anna Gräfin von Spreti, geb. 27.10.1929 Ober-Ast, Post Achdorf, wohnhaft
8203 Oberaudorf.
3. Alfred Graf von Bylandt, geb. 18.6.1906 Heidelberg-Neuenheim, wohnhaft F-75
Paris, 7 Rue de Mademoiselle.
4. Regina Oribe, geb. Gräfin von Bylandt, geb. 3.6.1933 Salzburg, wohnhaft 1973
in Washington, D.C., USA, wo ihr Ehemann Exz. Emilio Oribe, Botschafter der
Republik Uruguay war.
5. Lida Gräfin von Bylandt, geb. 9.1.1935 Salzburg, 7 Rue de Mademoiselle,
F-75 Paris.
6. Otto-Peter Lionel Joseph Hubert Robert Graf von Bylandt, geb. 5.11.1936
Salzburg, Vancouver, British Columbia, Canada.
7. Maria von Randow, geb. von Tresckow, geb. 22.3.1926 Wartenberg/Neumark,
Krankenschwester, 5303 Bornheim-Roisdorf, Siefenfeldchen 162.
8. Leopold Heinrich Conrad von Randow, geb. 5.7.1955 Bad Godesberg.
9. Friedrich Gerd von Randow, geb. 24.11.1959 Bonn.
10. Maria Beatrice Elisabeth von Randow, geb. 14.7.1961 Bonn.
11. Maria Elisabeth von Resckow, geb. 9.8.1929 Stettin, 53 Bonn-Endenich, Am
Eichkamp Nr. 9.
12. Brigitte Pitsch, geb. von Köller, geb. 2.9.1940 Kiel, 1000 Berlin 15,
Pariser Str. 20.
13. Klaus-Joachim von Köller, geb. 23.12.1941 Kiel, 56 Wuppertal-Elberfeld,
Friedrichallee 21.
14. Jochen von Köller, geb. 4.3.1965 Wuppertal-Elberfeld.
15. Stephanie von Köller, geb. 1.3.1967 Wuppertal-Elberfeld.
16. Jan von Köller, geb. 18.11.1969 Wuppertal-Elberfeld (14-16 56
Wuppertal-Elberfeld, Friedrichallee 21.
17. Gabriele von Köller, geb. 22.12.1944 Cammin, 1000 Berlin 41, Horst-Kohl-Str.
15.
18. Ruth Wellenkamp, geb. von Köller, geb. 24.5.1912 Schwenz, 53 Bonn,
Lotharstr. 61.
Die bürgerlichen Nachkommen sowie diejenigen adligen Nachkommen, die wie die
von Stralendorff, von Braunschweig usw. nicht in den neuen Genealogischen
Handbüchern des Adels bisher erfasst wurden, konnten nicht über die von
Siegfried Rösch hinausgehenden Daten erfaßt werden.
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Es ist verhältnismäßig wenig bekannt, dass Goethe sich gelegentlich auch als
Familienforscher betätigt hat, freilich weniger vom Standpunkt des
Fachgenealogen, sondern teils zur Erläuterung historischer Fakten und dann als
das, was man heute als "Sozialgenealoge" bezeichnen würde.
Bekanntlich hat Goethe eine Biographie, die Benvenuto Cellini (1500-1571) über
einen großen Teil seines eigenen Lebens in heiterer Unbefangenheit
niedergeschrieben hat, als erster ins Deutsche übertragen und mit einem Anhang
versehen, der das Verständnis der Autobiographie des großen Bildhauers,
Erzgießers, Gold- und Silberschmieds erleichtern soll: Anhang 11 ist eine
eigenhändige Stammtafel Goethes des Florenz durch Jahrhunderte mit kurzer
Unterbrechung regiert habenden Hauses Medici.
Stammtafel laden (22 KB)
Weit intensiver mit Familiengeschichte hat sich Goethe im Fall des
berühmt-berüchtigten Scharlatans "Graf von Cagliostro" beschäftigt.
Cagliostro war bekanntlich in die berüchtigte Halsbandgeschichte des Jahres
1785, die der französischen Königin Marie Antoinette so schweren moralischen
Schaden zufügte, verwickelt und ein Rechtsgelehrter in Palermo war
infolgedessen vom französischen Ministerium veranlasst worden, der Herkunft des
"dunklen Ehrenmannes" nachzuspüren.
Ahnentafel laden (26 KB)
Als Goethe auf seiner Italienreise in Palermo weilte, erfuhr er von dieser
Angelegenheit und dass jener Rechtsgelehrte eine Stammtafel des Joseph Balsamo
alias Graf von Cagliostro mit beglaubigten Unterlagen und Erläuterungen nach
Frankreich geschickt habe. Goethe interessierte dies und er erreichte, dass er
diesen Rechtsgelehrten kennenlernte und dieser ihm die Stammtafel mit
Zweitschriften der Urkunden vorlegte. Goethe erfuhr auch, dass die betagte
Mutter des Scharlatans noch in Palermo lebte, ebenso seine Schwester und er
erreichte – was er ja auch in seiner "Italienischen Reise"
schildert, dass er beiden und zwei Kindern der Schwester als ein englischer
Reisender vorgestellt wurde – er wählte diesen Weg, um überhaupt bei diesen,
die wussten, dass der Sohn und Bruder längere Zeit in England gelebt hatte,
vorgelassen zu werden. So erfuhr er auch, dass Cagliostro sich nicht gescheut
hatte, seine in beschränkten Verhältnissen lebenden Verwandten um eine
bestimmte, für sie nicht unbedeutende Summe zu beschwindeln und Goethe beschloss, der Familie diese Summe aus der eigenen Tasche zu bezahlen, jedoch in
so taktvoller Weise, dass sie glauben mussten, der Sohn und Bruder, das
"schwarze Schaf der Familie", habe diese Summe zurückerstattet.
Goethe hat – da er erkannte, dass die Familie grundehrlich war – die
Familie noch weiter unterstützt, auch Herzog Ernst von Gotha hat Goethe zu
diesem Zweck noch eine Summe Geldes überwiesen.
Goethe entwarf auf Grund der Angaben des Rechtsgelehrten eine Ahnentafel
Cagliostros, aus der hervorging, dass ein Urgroßvater mütterlicherseits
Matthäus Martello in Palermo war. Aus dessen Ehe stammten zwei Töchter, von
denen Maria, die Großmutter des Allerweltsschwindlers, Joseph Bracconeri
heiratete, die andere, Vicenza, hingegen einen gewissen Joseph Cagliostro, der
aus der Ortschaft La Noara, acht Meilen von Messina entfernt, gebürtig war.
Das Ehepaar Bracconeri, oft kurz Braccone genannt, hatte drei Kinder, eine
Tochter Felicitas, und zwei Söhne Matthias und Antonin. Felicitas heiratete
Pietro Balsamo, den Sohn eines Buchhändlers in Palermo, der, so meint Goethe,
ursprünglich jüdischer Abkunft war. Aus der Ehe des Pietro Balsamo mit
Felicitas Braccone (Bracconeri) stammten zwei überlebende Kinder, Joseph (der
Scharlatan) und Giovanina, die Giovanni Battista Capitummino heiratete.
Joseph Balsamo wurde das Patenkind seiner Großtante Vicenza Cagliostro, geb.
Martello und erhielt den Taufnamen Joseph (Giuseppe) seines angeheirateten
Großonkels Joseph Cagliostro. Später bediente er sich des Familiennamens
dieses mit ihm gar nicht blutsverwandten Großonkels und fügte – als
notorischer Schwindler – den Grafentitel hinzu.
Josephs Schwester Giovanina Balsamo verehelichte Capitummino war bereits Witwe,
als Goethe sie kennenlernte: Goethe hatte die alte Mutter des Schwindlers, seine
Schwester, deren eine Tochter, die er als liebenswürdiges, nettes Mädchen
beschreibt und deren Sohn in Palermo kennengelernt.
Er hat die "Stammtafel" in den frühen Ausgaben seiner Werke
veröffentlicht, später begnügte man sich mit dem Text und ließ sie weg,
obwohl sie das Verständnis erleichterte. Sie mag daher hier noch einmal folgen.
Cagliostro selbst kam 1789 in Rom in Haft, weil er dort für die verbotene
"ägyptische" Freimaurerei wirkte. Die Inquisition verurteilte ihn zum
Tode, Papst Pius VI. begnadigte ihn jedoch zur Festungshaft, und in der Festung
San Leone bei Urbino ist der Abenteurer 1795 gestorben.
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