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(Aus: Leipziger Neueste Nachrichten / Mitteldeutsche Rundschau, Frankfurt am Main, 29. Jahrgang, Nummer 3, März 1982) In Gemeinschaftsarbeit mit der Chefredaktion der LNN-MR wurde die hier vorliegende Veröffentlichung "Goethe und Mitteldeutschland" maßgebend redaktionell und beratend von Herrn Dr. Adalbert Brauer, Frankfurt am Main, dem Chefarchivar des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels i. R., zusammengestellt. Wir danken Herrn Dr. Adalbert Brauer vielmals für seine wertvolle freundschaftliche und erfahrene Mitarbeit.
(Klaus Edgar Herfurth, Verleger und Herausgeber der LNN-MR)

Goethes 150. Todestag am 22. 3. 1982
Die seit 1954 erscheinende Zeitung LEIPZIGER NEUESTE NACHRICHTEN, verbunden mit dem Titel "Mitteldeutsche Rundschau", ist als Kontaktorgan zwischen allen Deutschen in West- und Mitteldeutschland mit dem Sinn einer friedlichen Wiedervereinigung aller Deutschen konzipiert.
Das Blatt bringt in dieser Ausgabe ein Gedenken an den größten Deutschen, vielseitigen Denker und Geistesfürsten im Rahmen seiner begrenzten Möglichkeiten eine Dokumentation heraus, die alle Goetheforscher, Goetheverehrer und Leserfreunde ansprechen will.


Goethe und Mitteldeutschland

150 Jahre sind seit dem Tode Johann Wolfgang von Goethes vergangen, "jenes sprachgewaltigen deutschen Dichters, der seine Landsleute zu lehren versucht hatte, daß wahre Größe sich nicht nach Reichtum und Macht bemaß, sondern sich am Festhalten an moralischen Überzeugungen und an der Hingabe an die Sache der Freiheit zeigte", wie es der große Historiker Gordon A. Craig, der Verfasser der "Deutschen Geschichte 1866-1945", formuliert hat.
Der mit dem Leben und Wirken Goethes nur oberflächlich Vertraute – und das gilt von der übergroßen Mehrzahl seiner deutschen Landsleute zumindest in unseren Tagen – wird allenfalls wissen, daß dieser im Westen des alten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation – in der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main – geborene einmalige Dichter und Denker mal in Leipzig studiert hat und einen großen Teil seines Lebens im thüringischen Weimar verbracht hat: mehr aber auch nicht.

Durch die Teilung des ehemaligen Deutschen Reiches ist Weimar heute nur noch für eine kleine Minderzahl von Touristen ein lebendiger Begriff – Leipzig ist durch die Messen einer etwas größeren Zahl von Bürgern der Bundesrepublik bekannt, und sie haben wohl auch vor der alten, 1678 erbauten Handelsbörse das Denkmal gesehen, das erst im Jahre 1903 der Leipziger Bildhauer Carl Seffner (1861-1932) vom jungen Goethe geschaffen hat.

Über die Leipziger Studentenzeit dieses jungen Goethe gibt es eine Menge netter Erzählungen, Mischung von Dichtung und Wahrheit, aber gerade an dieser Zeit kann man schwerlich Goethes Bindung an Mitteldeutschland "aufhängen".

Goethe hat in seiner eigenen Autobiographie, eben seiner eigenen "Dichtung und Wahrheit", offen und ausführlich darüber berichtet. Der Fünfzehnjährige, als Sohn reicher Eltern teils vom Vater, teils von Hauslehrern unterrichtet, war, um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen, in eine Gesellschaft von "Halbstarken" geraten, ohne es in seiner Weltfremdheit zu merken – junge Menschen, die seine früh hervorgetretene poetische Begabung für ihre Zwecke ebenso zu missbrauchen trachteten wie seinen guten Kontakt zum Großvater Textor, der als Schultheiß der höchste Beamte der Freien Reichsstadt Frankfurt war. Als die Machenschaften jener "Halbstarken" aufflogen, hielt man den jungen Goethe anfänglich für weit schuldiger als er war, nicht zuletzt, weil er aus einem Gefühl der Loyalität seine Gefährten anfänglich schützen zu müssen glaubte.
Diese Vorgänge bestärkten aber Vater Goethe, den Sohn sobald als möglich aus der Vaterstadt fortzuschicken. Das Abitur, die Reifeprüfung der Höheren Schule, als Bedingung für die Immatrikulation an einer Universität, kannte man noch nicht: Diese Bedingung wurde in Preußen durch Edikt vom 12. Oktober 1812 eingeführt, im Königreich Sachsen erst 1829: Vorher war es in das Ermessen der Universitäten gestellt, ob sie meinten, dass jemand reif für ein Universitätsstudium sei, und die Auffassungen waren oft recht unterschiedlich.

Der junge Goethe wäre, wie er selber schreibt, liebend gern an die Universität Göttingen gegangen, doch der Vater hatte eine unüberwindliche Abneigung gegen Göttingen und entschied für Leipzig.
Johann Wolfgang war erst 16 Jahre alt, als er auf die Universität geschickt wurde und unter Obhut des Ehepaars Fleischer nach Leipzig abreiste: In diesem Alter wurde später ein Schüler von Unter- nach Obersekunda versetzt (sofern er nie sitzengeblieben war) oder machte, wenn er nicht studieren wollte, sein "Einjährigen-Freiwilligen"-Examen, die Obersekundareife, auf Grund deren er im Heer nur ein Jahr zu dienen hatte. Ein Sechzehnjähriger ist, und war im 18. Jahrhundert in noch stärkerem Maße, im Pubertätszeitalter, noch halb Kind.

Die Stadt Leipzig – als Zentrum des mitteleuropäischen Buchhandels und der größten Messen Mitteleuropas in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr wohlhabend geworden – imponierte dem kaum Erwachsenen durch ihre noch neuen imposanten Barockbauten, dem jungen Kindskopf, der am liebsten Altertumswissenschaft, Poetik und dergleichen studiert hätte, setzte der Professor Johann Gottlob Boehme (1717 bis 1780) liebevoll den Kopf zurecht und überzeugte ihn, dass es besser sei, dem Wunsch des Vaters zu folgen und Jurisprudenz zu studieren: Der Bub fügte sich Boehmes Argumenten, wenn er auch ein keineswegs fleißiger Student wurde und durch skurrile Freunde wie Behrisch oft genug abgelenkt wurde. Die zarte, kränkliche, erste Frau Boehmes, Eva Maria geb. Görz, die 1767 starb, gab sich große Mühe mit dem liebenswerten Kindskopf – mit halbem Erfolg.

Den positivsten Einfluss in dieser Zeit hat wohl Johann Gottlob Immanuel Breitkopf auf den künftigen Dichter ausgeübt. Seine erste leidenschaftliche Liebe, die zu Anna Katharina Schönkopf, Tochter des Weinschenken Schönkopf auf dem Brühl, fällt in die Leipziger Zeit: Doch die 3 Jahre Ältere wusste stets Distanz zu wahren und heiratete dann den Dr. jur. Kanne aus Wolkenstein, der später als Proconsul zu einem der höchsten Beamten der Stadt Leipzig aufstieg. Manches deutet darauf hin, dass Goethe seinen Kummer in Merseburger Bier zu ertränken versuchte – auch der so wohlwollende Gustav Wustmann deutet darauf hin -, jedenfalls kehrte er krank als 19jähriger, nunmehr im Abiturientenalter, nach der Vaterstadt zurück und noch das ganze Jahr 1769 war ein Jahr der Kränklichkeit und Gährung. Dann folgte Straßburg, und dort bestand er die juristische Abschlussprüfung, um dann zunächst Rechtsanwalt in seiner Vaterstadt zu werden.

Soweit die Leipziger Episode. Anders die 57 Jahre Weimar! Der Dichter und der Naturforscher fand seine Entfaltung weitestgehend in dem Raum, der auch in weitem Umfang sein "Urahnenland" war.
Diese Herkunft und der Umstand, dass zwei Drittel seines langen Lebens in diesem Raum verliefen, berechtigt, Goethe weitgehend Mitteldeutschland zuzuordnen.

Goethes früheste nachweisbare Ahnen kamen aus dem nordthüringischen Fürstentum Schwarzburg-Sondershausen, sie lebten in Badra, dann in Berka, wo sein Ururgroßvater Hans Goethe Gemeindevorsteher wurde. Später Bürger und Branntweinbrenner in Sangerhausen, um im hohen Alter bei seinem Sohn in Artern die Augen zu schließen.

Dieser Sohn, Goethes Urgroßvater Hans Christian Goethe, wurde Bürger und Hofschmiedemeister in Artern in der Grafschaft Mansfeld, nicht weit von Luthers Geburts- und Sterbestadt Eisleben. Aus Artern stammten sowohl Hans Christians Frau Sibylle Werner wie auch seine gleichnamige Mutter – Hans Christians Schwiegervater, auch ein Ururgroßvater Goethes, ist über 40 Jahre "Collega intimus" an der Schule in Artern gewesen. Artern und Eisleben fielen mit einem Teil der Grafschaft Mansfeld nach dem Aussterben der Mansfelder Grafen 1780 an das Kurfürstentum und spätere Königreich Sachsen, und als Sachsen 1815 auf dem Wiener Kongress, weil es bis zur Völkerschlacht bei Leipzig auf Napoleons Seite gestanden hatte, verstümmelt wurde, wurden Artern und Eisleben preußisch.

Hans Christian lebte in jungen Jahren einige Zeit in Cannawurf (Kannawurf), das damals kursächsisch war und zu dem südlich an das schwarzburg-sondershäusische Land angrenzenden sächsischen Ephoralbezirk Weißensee gehörte. Dort ist Goethes Großvater Friedrich Georg Goethe, der sich später gern Goethé schrieb, am 6. September 1657 zur Welt gekommen, als erstes der 9 Kinder der Ehe Goethe-Werner, rein thüringischer Abkunft. Über ihn und auch über seine Geschwister ist allerlei bekannt, er selber wurde Schneidermeister – in der Folge ein geschätzter Damenschneidermeister -, auch die Brüder verblieben im Handwerk, Hans Philipp wurde Tischlermeister in Allstedt an der Helme, Hans Jakob Hofschmiedemeister auf Schoß Mansfeld und Hans Georg gräflicher Hufschmied auf Schoß Mansfeld: die Geschwister blieben im Thüringer Raum, nur den Ältesten zog es in die Fremde. Paul Burg, ein Mann, der als Schriftsteller gewiss ein Vielschreiber war, hat das Verdienst, als erster weite Kreise auf Goethes väterliche Ahnen aufmerksam gemacht zu haben, die weit weniger bekannt waren als die schon um 1700 hochgestellten Ahnen der Mutter: seinem Roman "Sie sind´s, die Ahnen meines Hauses", der 1924 erschien, legte er eine Tafel der väterlichen Vorfahren Goethes nach dem damaligen Stand der wissenschaftlichen Erforschung bei.

Und von nun an riss die Forschung nicht mehr ab. 1932, als der 100. Todestag Goethes nahte, legte der Marburger Staatsarchivdirektor Carl Knetsch (1874-1938), ein Genealoge von internationalem Ruf, seine umfassende Ahnentafel Goethes vor, ein bis heute unübertroffenes Standardwerk. Diese Veröffentlichung inspirierte den als Mineralogen und Mathematiker rühmlichst bekannten Gießener Universitätsprofessor Siegfried Rösch (geboren 15.6.1899), der in seiner Freizeit leidenschaftlicher Familienforscher war, dem gesamten Verwandtschaftskreis Goethes bis in die vierte Generation rückwärts nachzugehen. Ein erstes Ergebnis legte Rösch in dem Lichtbildervortrag vor, den er am 19. April 1942 in der damaligen Frankfurter Genealogischen Gesellschaft über das Thema "Wie viel Verwandte Goethes gibt es?" hielt. 1954 legte er dann sein großes Werk "Goethes Verwandtschaft" vor, eine ebenso umfassende Dokumentation wie die von Carl Knetsch. Dank dieser Arbeit wissen wir, dass das thüringische Geschlecht Goethe in vielen Linien fortlebt.

Schauen wir in die großen Lexika, so finden wir darin Hermann Goethe (geb. 16.3.1837 Naumburg/Saale, gestorben 12.5.1911 Baden bei Wien), den Gründer der Obst- und Weinbauschule in Geisenheim am Rhein, der dann der führende Fachmann des österreichischen Weinbaus wurde – als er nach Österreich ging, wurde sein jüngerer Bruder Rudolf (geb. 13.4.1843 Naumburg, gestorben 16.1.1911 Dortmund) 1879-1903 sein Nachfolger als Direktor der Lehranstalt für Obst –und Weinbau in Geisenheim. Beide Brüder wussten, dass sie irgendwie mit Johann Wolfgang Goethe verwandt waren: Ihr Ahn Hans Christof Goethe in Berka (1632-1669) war der Urgroßonkel des Dichters, der ältere Bruder von Goethes Urgroßvater Hans Christian. (Die beiden Goethe-Brüder haben in Röschs Buch die Personen-Nrn.: (16/7) + III; a 9 bzw. ... a 11; Anm. Arndt Richter)

Beide Brüder haben im Mannesstamm Nachkommen bis in unsere Tage gehabt – Rösch verzeichnet in der Urenkelgeneration nicht weniger als sechs Träger des Namens Goethe im Mannesstamm, zwischen 1926 und 1948 geboren. Schwächer ist die männliche Nachkommenschaft der Brüder von Goethes Großvater, hier führt Rösch in der lebenden Generation nur zwei Vertreter auf – Goethes Großvater hatte aus zwei Ehen nur zwei Söhne, von denen der ältere, der Ratsherr und Zinngießermeister Hermann Jakob Goethe (1697-1761), nur Töchter hinterließ, während Johann Caspar der Vater des Dichters wurde.

In seinem oft aufgelegten Buch "Geniale Menschen" weist der Tübinger Psychiater Ernst Kretschmer (1888-1964) darauf hin, dass der schwäbische Raum einerseits und der sächsisch-thüringische Raum andererseits eine besondere Häufung von ungewöhnlichen Begabungen gebracht hat. Ein im Zweiten Weltkrieg erschienenes Büchlein "Was das evangelische Pfarrhaus dem deutschen Volke gegeben hat" unterstreicht diese These.

Betrachten wir nun die Ahnen des Dichters unter diesem Gesichtspunkt, so müssen wir den sehr großen Anteil gerade dieser erwähnten Gebiete an den Aszendenten feststellen. Goethes Großvater seines Namens war ein reiner Thüringer, die Großmutter Cornelia Walther ist zwar in Frankfurt geboren, deren Vater Georg Walther aber bereits in Weikersheim im württembergischen Jagstkreis, einst ein Teil des Hohenloher Landes, und dessen Vater in Deiningen unweit Nördlingen im bayerischen Teil von Schwaben.

Und nun die Ahnen von Goethes Mutter Frau Aja, der "Frohnatur". Ihre Ahnen kamen zu einem erheblichen Teil aus dem schwäbischen Raum. Wohl war ihr eigener Vater zum höchsten Beamten der Freien Reichsstadt Frankfurt emporgestiegen, aber schon sein Vater war in der fränkischen Universitätsstadt Altdorf geboren, aber das war eigentlich Zufall: Urgroßvater Johann Wolfgang Textor, dessen Vater seinen deutschen Familiennamen Weber in "Textor" lateinisiert hatte, war 1638 im württembergischen Neuenstein geboren, seine Frau in Crailsheim im württembergischen Jagstkreis, der in jener Zeit politisch zu Brandenburg-Ansbach gehörte. Johann Wolfgang Textor, Dr. jur., war 7 Jahre Professor in Altdorf, dann wurde er an die Universität Heidelberg berufen und von dort ging er 1690 als Stadtsyndikus nach Frankfurt am Main – da war sein Sohn Christoph Heinrich immerhin bereits 24 Jahre alt.

Und betrachten wir einen anderen mütterlichen Goethe-Ahnen: den Marburger Herrn Hofgerichtsprokurator Johann David Seip! Seine Mutter Elisabeth Schröter war in Meiningen geboren, Tochter des 1570 in Weimar geborenen Professors an der Universität Jena und Kanzlers in Meiningen Jacob Schröter, dessen Vater, der Bürgermeister und Stoffhändler Jacob Schröter der Ältere, Barbara Brück, die Enkelin des Malers Lucas Cranach (1472-1553), geheiratet hatte. War Lucas Cranach aus dem nordfränkischen Kronach Goethes "berühmtester Ahn", so war Barbaras anderer Großvater Gregorius Brück aus Brück bei Wittenberg als Kanzler des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Weisen eine der tragenden Figuren der sächsischen Geschichte des 16. Jahrhunderts, er riet 1530 zur Übergabe der Augsburgischen Konfession an Kaiser Karl V. und schrieb die Vorrede zu deren deutschem Text.

Goethe ist zwar in Frankfurt am Main geboren, seine Ahnentafel zeigt aber deutlich, dass er zu einem erheblichen Teil – und, wie wir sahen, nicht nur väterlicherseits – mitteldeutschen Ursprungs ist, und dass der zweite gewichtige Faktor seine südwestdeutschen Ahnen sind und dass er in seiner Einmaligkeit gleichsam die Thesen Ernst Kretschmers auf seine Weise belegt.

Goethe ist sich seines vielfältigen Erbes stets bewusst gewesen und hat es ganz ergreifend am Schluss der "Zahmen Xenien" zum Ausdruck gebracht:

"Gern wär´ ich Überlieferung los
Und ganz original;
Doch ist das Unternehmen groß
Und führt in manche Qual.
Als Autochthone rechnet ich
Es mir zur höchsten Ehre,
Wenn ich nicht gar zu wunderlich
Selbst Überlieferung wäre.
        ———————
Vom Vater hab´ ich die Statur,
Des Lebens ernstes Führen,
Vom Mütterchen die Frohnatur
Und Lust zu fabulieren.
Urahnherr war der Schönsten hold,
Das spukt so hin und wieder;
Urahnfrau liebte Schmuck und Gold,
Das zuckt wohl durch die Glieder.
Sind nun die Elemente nicht
Aus dem Complex zu trennen,
Was ist dann an dem ganzen Wicht
Original zu nennen?"

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Lebt Goethes biologisches Erbe fort?

- Eine Plauderei über die Nachkommen von Goethes Eltern -

Wir wissen heute durch die ausführliche Erforschung der Ahnen Goethes von Fachmännern ersten Ranges wie Archivdirektor Carl Knetsch, Professor Siegfried Rösch und andere, welch vielseitiges Erbe Goethe in sich trug, wobei in erster Linie die mitteldeutsche, in zweiter Linie die südwestdeutsche Note vorherrschend war. Fragt man aber den Durchschnittskenner von Goethes Leben und Wirken, so wird hinzugefügt: Wie das so bei Genies zu sein pflegt, das ist nun alles erloschen – nur ein Sohn Goethes blieb am Leben, von dessen drei Kindern starb die Tochter jung, die beiden Söhne unverheiratet mit 67 und 63 Jahren, und damit war alles erloschen.

Man vergisst dabei meistens, dass Goethes Schwester Cornelia, am 7. Dezember 1750 in Frankfurt geboren und am 8.Juni 1777 in Emmendingen in Baden gestorben, die trotz inniger Liebe der Geschwister zueinander ganz im Schatten des berühmten Bruders blieb, zumal sie schon im 27. Jahre starb, am 1.11.1773 geheiratet hatte, und zwar einen geistig bedeutenden und vielseitigen Mann: Johann Georg Schlosser, am 9. Dezember 1739 in Frankfurt geboren, damals Oberamtmann im badischen Emmendingen, später Geheimer Hofrat in Karlsruhe und 1790 Direktor des dortigen Hofgerichts. Ein sehr sozial eingestellter Mann, schied er 1794 freiwillig aus seinen Ämtern, weil eine von ihm zugunsten der Armen erlassene Verfügung von der Regierung gegen seinen Einspruch zurückgenommen wurde. 1798 wählte ihn seine Vaterstadt Frankfurt zum Syndikus, und als "jüngerer Bürgermeister" von Frankfurt ist er am 17. Oktober 1799 in seiner Vaterstadt verstorben.
Er übersetzte altgriechische Schriftsteller und war ein enger Mitarbeiter von Goethe und Merck bei den "Frankfurter Gelehrten Anzeigen". Nach Cornelias frühem Tod hat er die auch Goethe sehr verbundene, geistig sehr bedeutende Johanna Fahlmer geheiratet.

Cornelia hat ihrem Ehemann zwei Töchter geschenkt, von denen die jüngere, Julie (1777 bis 1793), die der Mutter das Leben kostete, früh verstarb, die ältere, Luise Marie Anna, genannt Lulu, aber Mutter von 9 Kindern wurde, von denen mehrere über 80 Jahre als geworden sind. Lulu Schlosser, geboren 28. Oktober 1774 in Emmendingen, eine geistig ungemein rege Frau, heiratete am 5. Juni 1795 in Ansbach Georg Heinrich Ludwig Nicolovius, der, am 13. Januar 1767 in Königsberg i.Pr. geboren und Bruder des bekannten Königsberger Buchhändlers Nicolovius, im Jahre 1795 Kammersekretär in Eutin wurde, mit seiner Frau dem dortigen Dichterkreis nahetrat, 1805 Konsistorialrat in Königsberg und Kurator der dortigen Universität wurde, 1810 Staatsrat bei der Sektion Kultus und Unterricht in Berlin – er wurde der engste Mitarbeiter des preußischen Kultusministers Freiherr vom Stein zum Altenstein (1770-1840, meist nur Altenstein genannt) und hat an dessen großer Lebensleistung wesentlichen Anteil.

Nicolovius ist am 2. November 1839 72jährig in Berlin verstorben. Seine Frau Lulu hat sich von der Geburt ihrer jüngsten Tochter Flora (die selber 68 Jahre alt wurde) nicht mehr erholt und ist 4 Monate nach deren Geburt 37jährig am 28. September 1811 in Berlin gestorben. Die Briefe, die sie an ihre Herzensfreunde, Caroline Perthes, Tochter des "Wandsbeker Boten" Matthias Claudius´ und Gattin des großen "Urvaters" des modernen Buchhandels, Friedrich Perthes, schrieb, legen von ihrem lebensfrohen Gemüt und ihrer großen geistigen Lebendigkeit Zeugnis ab. Sie haben sich im Perthes-Archiv zu Hamburg erhalten.
Als Tochter von Cornelia Goethe hatte Lulu alle Ahnen mit Goethe gemeinsam, und sie hat dies Erbe an ihre Kinder weitergegeben. Sind von ihren neun Kindern auch drei klein gestorben, und eine Tochter kinderlos mit 31 Jahren, so hat Lulu doch durch fünf ihrer Kinder (diese fünf Kinder lebten 80, 81, 70. 84 und 68 Jahre) bis heute eine zahlreiche Nachkommenschaft gehabt: diese Nachkommen haben – neben ihren anderen Voreltern – auch alle Ahnen Goethes in ihrem Erbe. Goethe hat von seinen Großneffen den späteren Professor der Rechte an der Universität Bonn, Dr. jur. Alfred Nicolovius (geb. 30.11.1806 in Königsberg, gest. 22.3.1890 in Bonn), besonders gern gehabt – dieser Großneffe hatte obendrein eine bemerkenswerte Familienähnlichkeit mit dem Großonkel.

Es ist das besondere Verdienst von Siegfried Rösch, in seinem Werk über "Goethes Verwandtschaft" alle Nachkommen von Cornelia, soweit er sie vor 26 Jahren erfassen konnte, zusammengestellt zu haben. Gewiss waren nicht alle zu erfassen – so wurde der Sohn Ludwig des erwähnten Professors Alfred Nicolovius Kaufmann in Brooklyn und New Jersey, und dessen Tochter Mary heiratete den Engländer William Varian im höheren Verwaltungsdienst – die Nachkommen sind Briten.
Dafür findet sich in der Bundesrepublik eine Anzahl Vertreter des Adels unter den Nachkommen, Träger der Namen von Stralendorff, von Köller, von Tresckow, von Randow – die alle heute bürgerliche Berufe ausüben: die "Genealogischen Handbücher des Adels", die laufend erscheinen, belehren uns, dass sich diese Nachkommen der Eltern Goethes weiter vermehren und sich auch als lebenstüchtig erwiesen haben. Es sind dies schließlich die nächsten Blutsverwandten Goethes, und eigentlich sollte Goethes Vaterstadt Repräsentanten dieser Familien, die ja alle im westdeutschen Raum leben, anlässlich des 150. Gedenktages von Goethes Tod einmal einladen. Vielleicht wissen nicht einmal alle, dass sie mit dem Dichterfürsten alle Ahnen gemeinsam haben. Das biologische Erbe Goethes ist keineswegs so erloschen, wie es oft angenommen wird.

Ein Bruchteil der Nachkommen von Cornelia Goethe ist mit Adressenangaben in zwei im Jahr 1973 erschienenen Bändern des GENEALOGISCHEN HANDBUCHS DES ADELS enthalten (Adressen von 1973):
1. Emilie Gräfin von Spreti, geb. Gräfin von Bylandt, geb. 30.12.1904 in Köln, 1973 wohnhaft 8203 Oberaudorf/Bayern.
2. Anna Gräfin von Spreti, geb. 27.10.1929 Ober-Ast, Post Achdorf, wohnhaft 8203 Oberaudorf.
3. Alfred Graf von Bylandt, geb. 18.6.1906 Heidelberg-Neuenheim, wohnhaft F-75 Paris, 7 Rue de Mademoiselle.
4. Regina Oribe, geb. Gräfin von Bylandt, geb. 3.6.1933 Salzburg, wohnhaft 1973 in Washington, D.C., USA, wo ihr Ehemann Exz. Emilio Oribe, Botschafter der Republik Uruguay war.
5. Lida Gräfin von Bylandt, geb. 9.1.1935 Salzburg, 7 Rue de Mademoiselle, F-75 Paris.
6. Otto-Peter Lionel Joseph Hubert Robert Graf von Bylandt, geb. 5.11.1936 Salzburg, Vancouver, British Columbia, Canada.
7. Maria von Randow, geb. von Tresckow, geb. 22.3.1926 Wartenberg/Neumark, Krankenschwester, 5303 Bornheim-Roisdorf, Siefenfeldchen 162.
8. Leopold Heinrich Conrad von Randow, geb. 5.7.1955 Bad Godesberg.
9. Friedrich Gerd von Randow, geb. 24.11.1959 Bonn.
10. Maria Beatrice Elisabeth von Randow, geb. 14.7.1961 Bonn.
11. Maria Elisabeth von Resckow, geb. 9.8.1929 Stettin, 53 Bonn-Endenich, Am Eichkamp Nr. 9.
12. Brigitte Pitsch, geb. von Köller, geb. 2.9.1940 Kiel, 1000 Berlin 15, Pariser Str. 20.
13. Klaus-Joachim von Köller, geb. 23.12.1941 Kiel, 56 Wuppertal-Elberfeld, Friedrichallee 21.
14. Jochen von Köller, geb. 4.3.1965 Wuppertal-Elberfeld.
15. Stephanie von Köller, geb. 1.3.1967 Wuppertal-Elberfeld.
16. Jan von Köller, geb. 18.11.1969 Wuppertal-Elberfeld (14-16 56 Wuppertal-Elberfeld, Friedrichallee 21.
17. Gabriele von Köller, geb. 22.12.1944 Cammin, 1000 Berlin 41, Horst-Kohl-Str. 15.
18. Ruth Wellenkamp, geb. von Köller, geb. 24.5.1912 Schwenz, 53 Bonn, Lotharstr. 61.

Die bürgerlichen Nachkommen sowie diejenigen adligen Nachkommen, die wie die von Stralendorff, von Braunschweig usw. nicht in den neuen Genealogischen Handbüchern des Adels bisher erfasst wurden, konnten nicht über die von Siegfried Rösch hinausgehenden Daten erfaßt werden.

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Goethe als Familienforscher

Es ist verhältnismäßig wenig bekannt, dass Goethe sich gelegentlich auch als Familienforscher betätigt hat, freilich weniger vom Standpunkt des Fachgenealogen, sondern teils zur Erläuterung historischer Fakten und dann als das, was man heute als "Sozialgenealoge" bezeichnen würde.
Bekanntlich hat Goethe eine Biographie, die Benvenuto Cellini (1500-1571) über einen großen Teil seines eigenen Lebens in heiterer Unbefangenheit niedergeschrieben hat, als erster ins Deutsche übertragen und mit einem Anhang versehen, der das Verständnis der Autobiographie des großen Bildhauers, Erzgießers, Gold- und Silberschmieds erleichtern soll: Anhang 11 ist eine eigenhändige Stammtafel Goethes des Florenz durch Jahrhunderte mit kurzer Unterbrechung regiert habenden Hauses Medici.

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Weit intensiver mit Familiengeschichte hat sich Goethe im Fall des berühmt-berüchtigten Scharlatans "Graf von Cagliostro" beschäftigt. Cagliostro war bekanntlich in die berüchtigte Halsbandgeschichte des Jahres 1785, die der französischen Königin Marie Antoinette so schweren moralischen Schaden zufügte, verwickelt und ein Rechtsgelehrter in Palermo war infolgedessen vom französischen Ministerium veranlasst worden, der Herkunft des "dunklen Ehrenmannes" nachzuspüren.

  
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Als Goethe auf seiner Italienreise in Palermo weilte, erfuhr er von dieser Angelegenheit und dass jener Rechtsgelehrte eine Stammtafel des Joseph Balsamo alias Graf von Cagliostro mit beglaubigten Unterlagen und Erläuterungen nach Frankreich geschickt habe. Goethe interessierte dies und er erreichte, dass er diesen Rechtsgelehrten kennenlernte und dieser ihm die Stammtafel mit Zweitschriften der Urkunden vorlegte. Goethe erfuhr auch, dass die betagte Mutter des Scharlatans noch in Palermo lebte, ebenso seine Schwester und er erreichte – was er ja auch in seiner "Italienischen Reise" schildert, dass er beiden und zwei Kindern der Schwester als ein englischer Reisender vorgestellt wurde – er wählte diesen Weg, um überhaupt bei diesen, die wussten, dass der Sohn und Bruder längere Zeit in England gelebt hatte, vorgelassen zu werden. So erfuhr er auch, dass Cagliostro sich nicht gescheut hatte, seine in beschränkten Verhältnissen lebenden Verwandten um eine bestimmte, für sie nicht unbedeutende Summe zu beschwindeln und Goethe beschloss, der Familie diese Summe aus der eigenen Tasche zu bezahlen, jedoch in so taktvoller Weise, dass sie glauben mussten, der Sohn und Bruder, das "schwarze Schaf der Familie", habe diese Summe zurückerstattet.

Goethe hat – da er erkannte, dass die Familie grundehrlich war – die Familie noch weiter unterstützt, auch Herzog Ernst von Gotha hat Goethe zu diesem Zweck noch eine Summe Geldes überwiesen.

Goethe entwarf auf Grund der Angaben des Rechtsgelehrten eine Ahnentafel Cagliostros, aus der hervorging, dass ein Urgroßvater mütterlicherseits Matthäus Martello in Palermo war. Aus dessen Ehe stammten zwei Töchter, von denen Maria, die Großmutter des Allerweltsschwindlers, Joseph Bracconeri heiratete, die andere, Vicenza, hingegen einen gewissen Joseph Cagliostro, der aus der Ortschaft La Noara, acht Meilen von Messina entfernt, gebürtig war.
Das Ehepaar Bracconeri, oft kurz Braccone genannt, hatte drei Kinder, eine Tochter Felicitas, und zwei Söhne Matthias und Antonin. Felicitas heiratete Pietro Balsamo, den Sohn eines Buchhändlers in Palermo, der, so meint Goethe, ursprünglich jüdischer Abkunft war. Aus der Ehe des Pietro Balsamo mit Felicitas Braccone (Bracconeri) stammten zwei überlebende Kinder, Joseph (der Scharlatan) und Giovanina, die Giovanni Battista Capitummino heiratete.
Joseph Balsamo wurde das Patenkind seiner Großtante Vicenza Cagliostro, geb. Martello und erhielt den Taufnamen Joseph (Giuseppe) seines angeheirateten Großonkels Joseph Cagliostro. Später bediente er sich des Familiennamens dieses mit ihm gar nicht blutsverwandten Großonkels und fügte – als notorischer Schwindler – den Grafentitel hinzu.
Josephs Schwester Giovanina Balsamo verehelichte Capitummino war bereits Witwe, als Goethe sie kennenlernte: Goethe hatte die alte Mutter des Schwindlers, seine Schwester, deren eine Tochter, die er als liebenswürdiges, nettes Mädchen beschreibt und deren Sohn in Palermo kennengelernt.
Er hat die "Stammtafel" in den frühen Ausgaben seiner Werke veröffentlicht, später begnügte man sich mit dem Text und ließ sie weg, obwohl sie das Verständnis erleichterte. Sie mag daher hier noch einmal folgen.
Cagliostro selbst kam 1789 in Rom in Haft, weil er dort für die verbotene "ägyptische" Freimaurerei wirkte. Die Inquisition verurteilte ihn zum Tode, Papst Pius VI. begnadigte ihn jedoch zur Festungshaft, und in der Festung San Leone bei Urbino ist der Abenteurer 1795 gestorben.


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