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Goethe-Heimat im Kyffhäuser-Schatten

Aus der Ahnenreihe des Dichters
(Aus: Heimat im Osten, Beilage zum Giessener Anzeiger mit dem Kreis-Anzeiger, Jahrg. 1964/Nr. 4, Sonntag, 26. April 1964, Heinz Hammerschmidt)

Im allgemeinen ist es für uns sozusagen ins Gefühl übergegangen, daß Weimar für Goethe, den Frankfurter Patriziersohn, nicht nur die Hauptstätte seines dichterischen Schaffens geworden ist, sondern seine zweite Heimat überhaupt. Von 1775 bis 1832: 57 Jahre hat der Dichter in der kleinen Thüringer Residenzstadt gelebt. Als 26jähriger kam er dorthin, und als 83jähriger ist er dort gestorben. Das Thüringer Land hat den größten Sohn unseres deutschen Volkes nicht mehr freigegeben. Doch nein – es hat ihn nur wieder zu sich zurückgeholt. Eine Mutter, die den Sohn, der in die Fremde zog, wieder in ihre Arme schließt.

Vor den Nordhängen des Kyffhäuser-Gebirges, von der Helme durchflossen, breitete sich die fruchtbare Ebene der "Goldenen Aue". Nordhausen und Sondershausen im Westen, Sangerhausen und Artern im Osten bilden ungefähr ihre Grenzen. Und in diesem Gebiet waren Goethes Vorfahren beheimatet.
Dort taucht an verschiedenen Orten seit dem 16. Jahrhundert der Name Goethe in Kirchenbüchern und Gemeindeurkunden auf.
So wohnte 1567 in Artern ein Martin Göthe, der in der Ringleber Flur eine halbe Hufe Landes besaß. Ebenda wird 1586 eine Frau Gede genannt. In Sangerhausen hören wir am Anfang des 17. Jahrhunderts von einem Peter Göthe und einem Joachim Götte. Gleichwohl dürfte keine dieser Personen zu den direkten Vorfahren des Dichters gehören. Viel größere Berechtigung zu solcher Annahme besteht bei einem Hans Christoph Göthe, der um die gleiche Zeit in einem Dorfe Berka erwähnt wird, das etwa 5 km flußabwärts von Sondershausen im Wippertale liegt. Denn dieser war vielleicht der Vater oder sonst ein nächster Verwandter des Berkaer Gemeindevorstehers Hans Göthe, in dem wir den Ururgroßvater des Dichters vor uns haben.
Hans Göthe heiratete zu Berka eine Frau Sibylla Werner, die wahrscheinlich aus Artern stammte. Sie starb im Jahre 1652 in Berka und wurde dort auch begraben. Dieser Ehe entsproß um das Jahr 1633 ein Sohn Hans Christian. Um 1656 finden wir den Hans Göthe in Sangerhausen. Warum er in Berka das Amt des Gemeindevorstehers aufgab und aus dem Orte wegzog, läßt sich in der Urkunde nicht auffinden. Jedenfalls verheiratete er sich 1657 zu Sangerhausen in zweiter Ehe mit Frau Magdalena Petersdorff, der Witwe des Branntweinbrenners Hans Petersdorff. Diese Wiederverheiratung brachte Hans Göthe in den Besitz eines Hauses in der Magdeburger Straße. 


Über die Stadt Artern hinweg 
gleitet der Blick in die
weite Ebene der Diamanten Aue 
bis hin zur Hainleite.

Doch schon nach vier Jahren, 1661, starb ihm auch diese Gattin. Hans Göthe scheute aber auch vor einer dritten Ehe nicht zurück. Ein schwedischer Leutnant Dörne hatte sich gegen Ende des 30jährigen Krieges in Sangerhausen seßhaft gemacht, hatte dort geheiratet und betrieb im Altendorf eine Branntweinbrennerei. Nach seinem Tode heiratete Hans Göthe im Jahre 1667 die Witwe, Frau Susanna Dörne, kam dadurch auch in den Besitz des Hauses und wurde Branntweinbrenner.
Noch ehe der Vater seine zweite Ehe einging, hatte sich sein zweiter Sohn aus der ersten Ehe mit Sibylla Werner, Hans Christian Göthe, nach Sondershausen zu dem Grobschmied Dietrich Werthern in die Lehre begeben.
Er war Anfang der Zwanziger, als er um das Jahr 1656 nach Artern übersiedelte, um sich dort als Meister selbständig zu machen. Er tat sich als Hufschmied auf. Doch scheint er auch im Schreiben eine gegen den damaligen Durchschnitt auffallende Gewandtheit besessen zu haben; denn er wurde um 1688 als Aufseher in den Rat gewählt, obwohl der doch ein "Zugewanderter" war.
In den Akten taucht er hier als "Christian Jethe" auf. – Gleich im ersten Jahre seiner Ankunft in Artern vermählte sich Hans Christian mit der Jungfrau S i b y l l a W e r n e r, aus Artern gebürtig und Tochter des Johannes Werner, der als "magister infimus" eine niedere Lehrstelle auf der Arterner Schule innehatte. Hans Christians Frau trug genau den gleichen Namen wie seine Mutter. Aber es war das kein Zufall. Denn Johannes Werner war der Bruder, und seine Tochter Sibylla mithin die Nichte von Hans Christians Mutter.

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Das Götheahnenhaus im 17. Jahrhundert
(nachgezeichnet von Ewald Engelhardt)
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Hans Christian hatte also seine Base geheiratet, und es ist wohl anzunehmen, daß sie der Magnet war, der den jungen Schmied von Sondershausen nach Artern herübergezogen hatte. Neun Kinder sind dieser Ehe entsprossen, als erstes der im Jahre 1657 geboren Friedrich Georg – Goethes Großvater.
Hans Göthe, der Vater von Hans Christian, hatte um das Jahr 1682 seine dritte Frau, Susanne, verloren. Wenige Jahre später, vermutlich 1685, zog er zu seinem Sohne nach Artern in die Hufschmiede und ist dort bald darauf gestorben, im Jahre 1686. 

Drei Jahre später, 1689, folgte ihm Frau Sibylla nach, die Gattin seines Sohnes. Doch Hans Christian blieb nicht lange Witwer; im Folgejahr 1690 verheiratete er sich in zweiter Ehe mit Martha Würdenberg, der Witwe eines Maurers. Der Sensenmann schien es aber auf das Hufschmiedehaus abgesehen zu haben: 1694 holte er sich den Meister selbst. Nur vier Jahre hatte diese zweite Ehe gewährt; die Witwe überlebte Hans Christian noch um 28 Jahre.
Von seinen Kindern, die alle im Arterner Schmiedehaus ihre Jugendzeit verbrachten, ist dem oben erwähnten Friedrich Georg der glücklichste Lebensweg beschieden gewesen. Er war wohl auch der Ehrgeizigste und Tatenlustigste.
Er hatte das Schneiderhandwerk erlernt, wahrscheinlich noch in Artern. Aber die Enge der Heimat paßte ihm nicht. Er begab sich auf die Wanderschaft, die mehrere Jahre währte und die ihn sogar nach Paris führte. Denkwürdig für ihn und für alle Folgezeit wurde das Jahr 1686, als er, ein 29jähriger, in Frankfurt am Main landete. Dort ließ er sich nieder und heiratete schon ein Jahr darauf Anna Elisabeth Lutz, die 1667 geborene Tochter des Frankfurter Schneidermeisters Sebastian Lutz. Diese Frau schenkte ihm vier Söhne und starb im Jahr 1700.
Friedrich Georg Goethe – so schrieb er seinen Vaternamen, seitdem er das Frankfurter Bürgerrecht erworben hatte – war inzwischen zu einem stattlichen Vermögen gekommen. Dieses vermehrte sich noch, als er 1705 eine begüterte Witwe heiratete: Cornelia Schelhorn, geborene Walther, die zuvor mit dem 1704 verstorbenen Gastwirt Johannes Schelhorn vermählt gewesen war. Dessen an der Zeil gelegene Wirtschaft "Zum Weidenhof" übernahm nun der rührige Schneidermeister Goethe. Aus dem Meister der Schere wurde ein Gastwirt. Die beiden ersten Kinder dieser zweiten Ehe starben noch vor ihrem Vater; das dritte aber, Johann Caspar, der 1710 zur Welt kam, sollte der Vater des Dichterfürsten werden. – Friedrich Georg Goethe ist 1730 in Frankfurt gestorben. Seine Frau Cornelia verschied ebenda im Jahre 1754; ihr Enkelkind, der kleine Wolfgang, zählte bei ihrem Tode fünf Jahre.
Als er starb, hatte Friedrich Georg ein Vermögen von fast 100 000 Gulden hinterlassen. Für die Familie war also wohlgesorgt. Zudem hatte die Wohlhabenheit das Tor zu den angesehenen Kreisen der reichen Handelsstadt geöffnet, und mit dem gehobenen Milieu war in dem Sohn das Verlangen nach einer gehobenen Bildung wachgeworden. Studieren wollte er, damit er dann im Rate der Stadt ein angesehenes Amt einnehmen könne.
So kam es denn, daß Johann Caspar Goethe im Jahre 1703 – es war das Sterbejahr seines Vaters – nach Gießen zog, um sich dort als Student der Rechtswissenschaft immatrikulieren zu lassen. Ein Jahr lang folgte er hier den Vorlesungen; dann wandte er sich im Jahre 1731 nach Leipzig, dessen Universität weithin in besonders hohem Ansehen stand.
Im Jahre 1735 beendete er hier sein Studium und kehrte nach Frankfurt heim, um dort das gesteckte Ziel zu erreichen: 1742 verlieh im Kaiser Karl VII. den Titel eines Kaiserlichen Rates. Auf diese Würde gestützt, heiratete er im Jahre 1748 Katharina Elisabeth Textor, die 1731 geboren Tochter des Frankfurter Stadtschultheißen Wolfgang Textor. Schon im nächsten Jahre, am 28. August 1749, wurde als erstes Kind Johann Wolfgang Goethe geboren.
Vom Gemeindevorsteher und Branntweinbrenner zum Hufschmied; vom Hufschmied zum Schneidermeister und Gastwirt; vom Gastwirt zum Kaiserlichen Rat; vom Kaiserlichen Rat zum Minister, zum geadelten Geheimrat und mehr noch: zum größten Dichter des deutschen Volkes – so läuft über fünf Generationen hinweg die Linie, die in Berka begann, über Sangerhausen sich nach Artern fortsetzte, dann nach Frankfurt absprang und zum Schluß sich dann nach Weimar zurückspann: Thüringer Land am Anfang und am Ende!
Artern spielt dabei wohl die wichtigste Rolle als Heimat von Goethes Ahnen. Noch steht dort in der Harzstraße 10 das bei dem Stadtbrand von 1683 erhalten gebliebene Haus, wo der Hufschmied Hans Christian Göthe, des Dichters Urgroßvater, die Pferde beschlug. Freilich hat es seit 1880 sein Aussehen etwas geändert: damals wurde die Straßenseite erneuert und das Erdgeschoß umgebaut, indem die auf der linken Seite befindliche Schmiedewerkstatt zum Wohnraum umgestaltet wurde. Über der neuen Haustür brachte man eine Gedenktafel an.


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Der Hof des Göthe-Stammhauses in Artern

Das Tor rechts vom Haus führt hinten in den Hof, und hier taucht die Zeit der alten Hufschmiede stark und unmittelbar wieder auf: das hervortretende Fachwerk, die von den Jahrhunderten angenagte Galerie und über allem eine gewisse Ungepflegtheit, die aber gerade das Ganze stimmungsvoll verklärt und die Bedürfnislosigkeit von ehedem wieder bewußt werden läßt. Dies war der Hof, in dem die neun Hufschmiedekinder gespielt haben; hier verbrachte der Ururahne Hans Göthe sein letztes Lebensjahr; und durch das einstige Tor zog sein Enkel, der junge Schneidergesell Friedrich Georg, hinaus auf die Wanderschaft, die ihn in Frankfurt zu hohem Wohlstand führten und die Patrizierfamilie Goethe begründen helfen sollte.
Goethe selbst ist in seiner Amtstätigkeit öfters durch Artern gekommen. Er wußte, daß seine Vorfahren hier beheimatet waren, doch konnte er nie genauere Unterlagen dafür erhalten. Eine spätere Überlieferung will indessen davon wissen, daß sein Dichtwerk "Hermann und Dorothea" hier manche Anregung erfahren habe. Sogar ein seelisches Erlebnis sollte ihn noch einmal mit der Ahnenheimat verbinden: In einem Brief an Frau von Stein hat er gestanden, daß er auf einem Schützenfest in Apolda sich leidenschaftlich in ein schönes junges Mädchen aus Artern mit dem Vornamen Christel verliebt habe.

Arterner "Göthe-Notgeld" von 1921
Das Notgeld wurde zum großen Teil durch Ewald Engelhardt entworfen

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Bild-Quellen:
Schmölling, Andreas: Artern, Ansichten einer Stadt, Sutton Verlag, Erfurt, 1997
Stadtverwaltung Artern: Artern, Blicke in die Vergangenheit, Geiger-Verlag, Horb 1992


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